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4. Apr. 2025 | 10 MIN.
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Analyse der Massenproteste in der Türkei

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The Voicer

Tunahan Turhan / SOPA Images / ZUMA Press Wire / Scanpix / LETA

In der Türkei kommt es zu massiven Protesten und Verhaftungen. Der Grund dafür ist die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu, dessen Namen viele von uns wahrscheinlich noch nie gehört haben. Aber das Problem ist viel globaler: Neben dem Bürgermeister der Hauptstadt wurden Hunderte von Menschen verhaftet. Und die Kundgebungen selbst sind vielleicht das Einzige, was die Situation jetzt ändern kann. In diesem Artikel geht es darum, wer Ekrem Imamoğlu ist und was die Ursache für die politische Instabilität in der Türkei ist.

Doch zunächst möchten wir Ihnen einige hochwertige und beeindruckende Aufnahmen von den Straßen der protestierenden Türkei zeigen, um sie in den Kontext zu setzen.Chris McGrath / Getty Images

Akin Celiktas / Anadolu / Getty Images

Tunahan Turhan / SOPA Images / ZUMA Press Wire / Scanpix / LETA

Huseyin Aldemir / AP / Scanpix / LETA

Huseyin Aldemir / AP / Scanpix / LETA

Francisco Seco / AP / Scanpix / LETA

Umit Bektas / Reuters / Scanpix / LETA

Tunahan Turhan / SOPA Images / ZUMA Press Wire / Scanpix / LETA

Wer ist Ekrem Imamoğlu?

Wir werden hier nicht den gesamten Lebenslauf des Bürgermeisters von Istanbul beschreiben, sondern uns auf einige interessante Punkte konzentrieren. Imamoğlu wurde 1970 geboren. Im Vergleich zu Erdogan, der heute 71 Jahre alt ist, wirkt der fünfundfünfzigjährige Imamoğlu wie ein sehr junger und lebhafter Politiker. Sein Vater besaß eine Baufirma, was dem jungen Mann wohl dazu verhalf, sein Studium an der Amerikanischen Privatuniversität in Kyrenia aufzunehmen. Dies ist ein interessanter Punkt, denn im Gegensatz zur klassischen türkischen Bildung wurden an dieser Universität amerikanische Modelle und Lehrmethoden angewandt.

Imamoğlu begann sich in den 1990er Jahren für die Politik zu interessieren, und 2013 erzielte er bereits seinen ersten großen Sieg. Er nahm an den Bürgermeisterwahlen im Bezirk Beylikdüzü teil und besiegte den Kandidaten der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die von Erdogan geführt wird. Übrigens gab es hier einen lustigen Moment, der die jetzigen Ereignisse beeinflusst haben könnte. Der Unterschied zwischen den Kandidaten betrug nämlich nur etwas mehr als 13 000 Stimmen - 0,2 % -, aber der Oberste Wahlrat der Türkei hat das Ergebnis annulliert, weil die Arbeit der Beobachter laut Untersuchung nicht ordnungsgemäß organisiert war. Plötzlich (oder auch nicht so plötzlich) forderte Erdogan aktiv eine solche Entscheidung mit dem Argument ein, dass der Unterschied von 13.000 Stimmen zu gering für eine endgültige Entscheidung sei.

Aber der versprochene lustige Moment kommt erst weiter. Es wurden Neuwahlen anberaumt, und im Juni 2019 gewann Imamoğlu mit noch größerem Vorsprung als bei der ersten Wahl. Zu diesem Zeitpunkt lernten die Menschen ihn wirklich kennen. Die nächste Station war das Bürgermeisteramt von Istanbul.

Der Anfang der Probleme

Die Popularität eines aus dem System gefallenen Politikers schien nicht in Erdogans Pläne zu passen. Im Dezember 2022 wurde er von einem Gericht in Istanbul zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Und zwar wegen Beleidigung der Mitarbeiter des Hohen Wahlrats der Türkei. Ja, Imamoğlu nannte sie "Idioten". Damit meinte er jedoch diejenigen, die die Wahlergebnisse 2019 annulliert hatten. Wie sich aber herausstellte, zieht diese Tat fast drei Jahre Gefängnis nach sich. Schon damals gab es massive Proteste zur Unterstützung des Bürgermeisters der Hauptstadt, und er konnte gegen die Entscheidung des Gerichts Berufung einlegen.

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass der wahre Grund für diese juristische Farce der Versuch war, Imamoğlu von der Teilnahme an den türkischen Präsidentschaftswahlen auszuschließen. Das hatte er übrigens auch vor. Und selbst Umfragen zeigten Ergebnisse, die für Erdogan ziemlich gefährlich waren.

Annäherung an die Gegenwart

Im November 2024 verwickelte sich der Präsident unmittelbar selbst in den Streit. Erdogan reichte eine Verleumdungsklage gegen Imamoğlu ein, weil er angeblich versucht hatte, den Präsidenten in der Öffentlichkeit zu demütigen. Übrigens: In der Türkei kann man dafür 4 Jahre Gefängnisstrafe bekommen.

Doch das war noch nicht alles. Erst kürzlich hat die Istanbuler Staatsanwaltschaft ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen den Bürgermeister eingeleitet, in dem ihm vorgeworfen wird, er habe versucht, den Verlauf der Ermittlungen zu beeinflussen. Und selbst das ist noch nicht alles. Am Tag vor seiner Verhaftung gab die Universität Istanbul bekannt, dass dem Bürgermeister der Universitätsabschluss entzogen wurde. Warum? Erinnern Sie sich doch an die Amerikanische Universität, an der Imamoğlu studierte. Der künftige Bürgermeister soll gegen das Verfahren für den Wechsel von einer Universität zu einer anderen verstoßen haben.

Massenproteste

Die Krönung war der Vorwurf der Bestechung und der Kollaboration mit den Kurden, was natürlich mit einer viel schwereren Strafe geahndet wird als Verleumdung der Behörden und Verstöße bei der Zulassung zur Universität. Natürlich wurde Imamoğlu verhaftet.

In Istanbul und darüber hinaus begannen Massenproteste. Der Verlag The Guardian berichtete, dass am Abend des 21. März 300.000 Menschen an der Kundgebung in Istanbul teilnahmen. Es ist jedoch wichtig, daran zu denken, dass der Verlag die Worte der Unterstützer des Bürgermeisters zitierte. In Wirklichkeit mag die Zahl anders aussehen, aber die Proteste sind zweifellos massiv.

Es kam auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Polizisten setzten nicht nur Tränengas, sondern auch Wasserwerfer und sogar Gummigeschosse ein, um Demonstranten auseinander zu treiben. Allein am 21. März verhaftete die Polizei 343 Personen wegen ihrer Teilnahme an den Kundgebungen.

Die derzeitige Regierung erklärt ihren Standpunkt ganz einfach:

"Wir werden kein Mitleid für diejenigen aufbringen, die versuchen, die öffentliche Ordnung zu stören, den Frieden und die Sicherheit zu bedrohen, Chaos zu stiften und Provokationen zu organisieren", sagte der Innenminister. Erdogan ging noch weiter und sagte, die Regierung habe "keine Zeit für Spektakel der Opposition".

Aber war Imamoğlu allein?

Natürlich gibt es in der Türkei viele politisch aktive Bürger. Apropos Imamoğlus Team: Seit Oktober letzten Jahres hat die Polizei mehr als 50 Mitglieder der Republikanischen Volkspartei festgenommen. Und am Tag von Imamoğlus Verhaftung wurden von der Polizei 100 weitere Politiker, Journalisten und Aktivisten festgenommen. Es waren massive Razzien.

Die Journalistengewerkschaft berichtete, dass am Montag mindestens acht weitere Journalisten zu Hause festgenommen wurden. Interessanterweise war einer von ihnen ein Fotojournalist, der für die französische Nachrichtenagentur Agence France-Presse arbeitet.

Wie wirkt sich die Situation auf die Beziehungen mit der EU aus?

Eine wichtige Ergänzung zur Analyse der Proteste in der Türkei sind aktuelle Informationen und der geopolitische Hintergrund, vor dem sie stattfinden. Tatsache ist, dass die EU-Länder aufgrund der Politik des neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump, der sich von Europa entfernt, dringend nach Verbündeten suchen, um die Verteidigungsfähigkeit der Union zu verbessern. Vor kurzem hat das Europäische Parlament die Idee gemeinsamer Verteidigungsprojekte zwischen der EU und der Türkei vorgeschlagen, was für beide Seiten von Interesse zu sein scheint.

Erdogan versuchte sogar, dies mit den Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU zu verknüpfen, was zur Stabilisierung der türkischen Wirtschaft beitragen würde. Und einige europäische Staats- und Regierungschefs unterstützten sogar diese Idee. So erklärte z.B. der polnische Ministerpräsident Donald Tusk, er würde es begrüßen, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union würde.

Obwohl der Prozess weit von echten Ergebnissen entfernt war, ist er doch vorangekommen. Und jetzt, nach den Verhaftungen der Opposition in großem Ausmaß, ist es schwer zu sagen, wohin die Gespräche führen werden. Die europäischen Vertreter haben die Niederschlagung der Proteste bereits verurteilt, allerdings mit der gebotenen Vorsicht, ohne die für April geplanten Verhandlungen abzusagen. Es entsteht der Eindruck, dass die europäischen Länder das Vorgehen Erdogans genau beobachten, und er sollte etwas vorsichtiger sein, wenn er eine weitere Zusammenarbeit zwischen den Ländern erwartet.

Was denken die USA über die Lage in der Türkei?

Vor einigen Tagen führte der amerikanische Außenminister Marco Rubio in Washington Gespräche mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan. Ihm zufolge äußerten sich die USA besorgt über die Verhaftungen in der Türkei. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass Erdogan zurzeit eine sehr wichtige Rolle für das Trump-Team spielt, und die Vereinigten Staaten könnten sogar bei Massenprotesten ein Auge zudrücken.

Die Türkei wird zu einem immer wichtigeren Bollwerk gegen den Iran im Nahen Osten und bleibt ein Faktor für die Stabilisierung Syriens. Genau das hat Rubio nach seinem Treffen mit dem türkischen Minister auch gesagt.

Angesichts der Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Käufe von US-Kampfflugzeugen haben sich Trump und Erdogan außerdem darauf geeinigt, das Land wieder in das F-35-Programm aufzunehmen, und erwägen sogar, die russischen Waffen in der Türkei durch amerikanische zu ersetzen. Es besteht der Verdacht, dass die Vereinigten Staaten das Geschäft auch nach der aggressiven Niederschlagung der Proteste nicht gefährden wollen.

Wie geht es weiter?

Obwohl ein langwieriges Gerichtsverfahren und zahlreiche Proteste bevorstehen, verschwendet die derzeitige Regierung keine Zeit. Plakatwände und andere Werbekampagnen mit Imamoğlus Konterfei wurden in Istanbul bereits entfernt. Und selbst wenn er wieder freigesprochen wird, wird sich das Szenario der letzten Wahlen wiederholen, als Imamoğlu wegen eines offenen Gerichtsverfahrens nicht an den Wahlen teilnehmen durfte.

Wie so oft liegt nun alles in den Händen der Demonstranten. Erdogan ist ein sehr erfahrener und sogar professioneller Politiker. Er weiß, wie er dieses Spiel spielen und viele Situationen zum eigenen Vorteil ausnutzen kann. Allerdings wird er Jahr um Jahr mit immer mehr Problemen innerhalb seines Landes konfrontiert.

Deshalb glauben wir, dass heute viel vom Imamoğlus Schicksal selbst abhängt. Die derzeitige Regierung sieht ihn zu Recht als ihren Hauptgegner an, und die Opposition weiß, dass Imamoğlu jetzt ihre wertvollste Figur ist. Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei, Özgür Özel, hat das Vorgehen der Regierung bereits als "Putsch gegen den künftigen Präsidenten" bezeichnet.

"Ich lade Zehntausende, Hunderttausende und Millionen ein, an friedlichen Demonstrationen teilzunehmen, um unsere demokratische Reaktion zum Ausdruck zu bringen und unsere verfassungsmäßigen Rechte auszuüben", ergänzte er. Dies deutet darauf hin, dass die Opposition derzeit versucht, die Situation durch eine Protestbewegung zu retten.

Sollte es Erdogan gelingen, sich bis zum Abklingen der Proteste zu halten, wird sich die Opposition nach einem neuen Präsidentschaftskandidaten umsehen müssen, was in so kurzer Zeit nur schwer möglich ist.

Doch Imamoğlus Inhaftierung ist, wie die türkische Geschichte zeigt, nicht immer ein Urteil. Immerhin war der damals junge Erdogan 1997 auch Bürgermeister von Istanbul und wurde ebenfalls wegen angeblicher Anstiftung zu Gewalt und Hass verhaftet. Der künftige Präsident verbrachte damals 120 Tage im Gefängnis. Er musste als Bürgermeister zurücktreten und die Parlamentswahlen verpassen. Vier Jahre später kehrte Erdogan jedoch in die Politik zurück und gewann die Präsidentschaftswahlen. Heute folgt Imamoğlu in vielerlei Hinsicht dem Weg Erdogans. Doch die Geschichte hat ihren ganz eigenartigen Sinn für Humor.

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